Einstufung Verformungsgrad in Bezug zum Entspannungsglühen ?

luftauge

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Mir geht etwas nicht aus dem Kopf, was ich im Buch von Läpple zum Entspannungsglühen gelesen habe:

Er schreibt dort, dass man die Temperatur zum entspannenden Glühen in Abhängigkeit zum Verformungsgrad auswählen soll. Er teilt die Verformung in Prozentschritten ein, aber nicht in Winkel oder andere Formen, er unterscheidet auch nicht zwischen Schmieden, Biegen oder (Aus-)Stanzen. Ein roher Flachstahl wäre demnach vermutlich 0% verformt - er geht nicht näher darauf ein. Aber was sind dann 100% ?

Grund der Frage:
Scherengeschnittener Flachstahl mit oder ohne Walzhaut ist wegen des Schnittes im Rohzustand meist etwas verzogen/verspannt. Auch gesägte Flachstähle mit Walzhaut sind manchmal etwas verzogen, was sich später mehr oder weniger stark auswirken kann.

Wie hoch kann man den Verformungsgrad ansetzen, um zum Entspannungsglühen möglichst nah an die richtige Temperatur heranzukommen ?

Gruß Andreas
 
Hallo, Luftauge,
ich nehme an, Du meinst die Seite 86 in dem Buch. Das Kapitel behandelt das Rekristallisationsglühen. Die Temperatur, bei dem derWerkstoff rekristallisiert, hängt von der Verformung in der Tat ab. Diese Verformung, die dort aufgetragen ist in dem Diagramm, ist die Kaltverformung. Bei Deinem Problem ist diese Verformung sehr lokal in der Schnitt- bzw. Abkantzone. Diese Verformung kann erheblich ein, so dass diese Bereiche unter Umständen sofort rekristallisieren, also bei ca. 500 °C. Die anderen Werkstoffbereiche merken erst mal nix, aber es kann durch Erholung oder Kornwachstum zu unangenehmen Sachen kommen.

Wenn Du die Diagramme auf den Seiten 87 und 79 vergleichst, dann siehst Du, dass die Bereiche von Rekristallisationsglühen und Weichglühen einander überlappen.

Bei 650° sollte alles was kaltverformt ist, weg sein.

Und das Schmieden wird nicht beschrieben, da idealerweise keine Kaltverformung bleibt.

Das gilt alles für unlegierte und niedriglegierte Stähle. Bei legierten ist das nicht mehr so einfach.

Beim Rekristallisieren, das aber hier lokal wäre, kann man die Eigenspannungen minimieren, jedenfalls in den Stellen des Werkstücks, die infolge Kaltverformung zum Rekristallisieren neigen. Unterhalb einer kritischen Kaltverformung passiert ja nix, wie man dem Diagramm auf Seite 87 entnehmen kann.

Und beim Weichglühen beseitigt man die Eigenspannungen auch nicht vollständig, sondern begrenzt sie maximal auf das Niveau der Streckgrenze bei der beim Weichglühen eingesetzten Temperatur.
 
Zum Rekristallisationsglühen eine kurze Ergänzung, die vielleicht sinnvoll sein könnte, weil gelegentlich Kaltschmieden als Behandlungsschritt vorgeführt und empfohlen wird.
Normalerweise spielt die Rekristallisation für durchgreifend geschmiedete oder gewalzte Stähle, wie Herbert schon geschrieben hat, keine Rolle, da dabei eine Kaltverformung nicht zurückbleibt.
Nun sieht man aber, gerade in Filmen japanischer Schmiede, daß in ganz erheblichem Umfang kalt- und zwar wirklich kalt- geschmiedet wird. Im Film von Meister Doi- nur ansehen, Ton bitte abschalten- oder auch von dem alten Hobelschmied wird massiv auf dem völlig erkalteten Stahl herumgehämmert.
Ernst zu nehmende Erklärungen gibt es dazu in der Regel nicht. Die Vermeidung späteren Verzugs, die gelegentlich angesprochen wird, kann dabei nicht gemeint sein.
Man könnte in diesem Zusammenhang an eine Kornverfeinerung und eine Festigkeitssteigerung wie beim Patentierverfahren beim Zug höchstfester Drähte denken. Die Festigkeitssteigerung würde aber zwangsläufig beim Austenitisieren zum Härten verschwinden.
Es bliebe also die Kornverfeinerung. Genau da gibt es aber einen Haken.
Bei einer Kaltverformung im Bereich von bis 10 % taucht die höchst unerwünschte Erscheinung der groben Rekristallisation auf. D. h., das verzerrte Gefüge rekristalliert und bildet dabei ein besonders grobes Korn.
Wird ein kritischer Umformgrad überschritten- also etwa ab 10 % aufwärts- rekristalliert das Gefüge dagegen fein. Bei mehr als 10 % Kaltverformung kann es aber auch schon zu kleinen und größeren Rissen im Gefüge kommen.
Ich sehe die bewußte Kaltverformung daher immer mit einer gewissen Skepsis und denke, man sollte bei den bewährten Methoden - durchgreifendes Schmieden bei nicht zu hoher Endtemperatur, Normalglühen und Einformen bleiben.
Wer es kann, kann natürlich auch den Bearbeitungsschritt Kaltschmieden einfügen- wer damit keine Erfahrung hat, sollte es lassen.
MfG U. Gerfin
 
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Diese Verformung, die dort aufgetragen ist in dem Diagramm, ist die Kaltverformung. Bei Deinem Problem ist diese Verformung sehr lokal in der Schnitt- bzw. Abkantzone. Diese Verformung kann erheblich ein, so dass diese Bereiche unter Umständen sofort rekristallisieren, also bei ca. 500 °C.
Bei 650° sollte alles was kaltverformt ist, weg sein.
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Das gilt alles für unlegierte und niedriglegierte Stähle. Bei legierten ist das nicht mehr so einfach.
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Ja Herbert, um diese Bereiche oder Zonen der Kaltverfestigung beim Schlagschnitt geht es, weil die nicht selten dazu führen, dass ein Flachstahl im Rohzustand "windschief" ist, also um alle Flächen oder auch diagonal gewölbt oder gehöhlt ist.
Das innere Gleichgewicht scheint durch den Schnitt ganz erheblich gestört zu sein, weil nicht nur die bearbeiteten Zonen verformt (gestaucht / gestreckt) sind, sondern der gesamte Streifen zwangsläufig betroffen ist, je schmaler oder dünner, desto heftiger.

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Die Festigkeitssteigerung würde aber zwangsläufig beim Austenitisieren zum Härten verschwinden.
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Bei einer Kaltverformung im Bereich von bis 10 % taucht die höchst unerwünschte Erscheinung der groben Rekristallisation auf. D. h., das verzerrte Gefüge rekristalliert und bildet dabei ein besonders grobes Korn.
Wird ein kritischer Umformgrad überschritten - also etwa ab 10 % aufwärts- rekristalliert das Gefüge dagegen fein. Bei mehr als 10 % Kaltverformung kann es aber auch schon zu kleinen und größeren Rissen im Gefüge kommen.
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Wer es kann, kann natürlich auch den Bearbeitungsschritt Kaltschmieden einfügen- wer damit keine Erfahrung hat, sollte es lassen.
Uli, meine Frage war evtl. etwas diffus :)

Ich möchte nicht kaltschmieden, dengeln oder sonstwie kaltverfestigen, sondern die Eigenspannung in geschnittenen Flachstählen, die sonst weiter keine Vorbehandlung erfahren haben, durch Glühbehandlung reduzieren, da ich nun schon mehrmals die Erfahrung machen musste, dass einige meiner Klingen aus vergleichbaren Rohzuständen mehr oder weniger stark "krummgehärtet" waren.
Für das Schmieden hat es bei mir noch nicht gereicht, ich feile und schleife immer noch :glgl:

Eine für mich interessante Beobachtung dabei war, dass die Bereiche, in denen ich recht viel Material weggeschliffen hatte (Klinge), gerade geblieben sind, während Bereiche, in denen ich ausschließlich nur gebohrt hatte (Erl), sehr stark gekrümmt waren. Wobei es mich verwunderte, dass einige meiner Klingen, die alles andere als symmetrisch waren, wirklich gerade geblieben sind !

Diese Beobachtung kenne ich von kaltgewalzten/-gezogenen Flachstählen, bohrt man irgendwo im Bereich der Mitte ein Loch, dann krümmt sich der Stahl, wenn er vorher nicht entspannend geglüht wurde, und die Maßhaltigkeit/Ebenheit ist dahin.
Die andere Methode wäre, die Walzhaut vorbeugend abzufräsen, um den stark verspannten Bereich zu entfernen.

Dieses Frage steht in Zusammenhang mit dem Richten von Klingen, was unter Umständen durch eine vorherige Glühbehandlung der Rohstreifen möglicherweise reduziert oder ganz vermieden werden kann.

Ich gehe nach Euren Erklärungen davon aus, dass ein scherengeschnittener Streifen in die Verformungstufe "bis 10%" fällt, und dass ein entspannendes Glühen je nach Legierung von 500° - max. 650°C stattfinden kann (darf).

Gruß Andreas
 
Hallo, Luftauge,
die Sache mit dem Verzug ist komplex.
die durch Abscheren etc, eingebrachte Kaltverformung ist lokal deutlich höher als 10%, kann durchaus nahe 100% sein.
Zurück bleiben immer Eigenspannungen, die können 1. Art oder 2. Art sein (es gibt auch noch Eigenspannungen 3. Art, aber die führen nicht zu Verzug).

Hat man Eigenspannungen 2. Art, also inkleinen Werkstückbereichen (in der Nähe der Abschlagkante, z.B.), so reicht es,dieses Volumen wegzunehmen, und es gibt keinen Verzug mehr.

Bei Eigenspannungen 1. Art,also z.B. nach Härten krumme Klingen, da ist das nicht mehr ganz so einfach. Ist das Werkstück überdimensioniert, dann kann man durch große Wegnahme von Werkstückvolumen die Eigenspannungen drastisch reduzieren.

Man kriegt die durch Glühen weg bis zur Warmstreckgrenze, aber nicht tiefer.

Beim Richten werden die umgelagert. Gerichtete Werkstücke, die erwärmt werden, verziehen sich wieder.

Das hat man früher beim Herstellen von Kanonenrohren gemerkt.
Die werden geschmiedet, und manchmal sind die nach den Wärmebehandlungen und durch den Schmiedevorgang krumm. Die werden dann gerichtet, und wenn man die heiß schiesst, werden die krumm und treffen nicht mehr gut.

Drum: Eigenspannungen die man im warmen Zustand bereits sieht, auch im warmen Zustand wegrichten.

Oder später viel Volumen wegnehmen.
 
Hallo Andreas !
Herbert hat die Frage des Verzugs durch Kaltverformung und Gegenmaßnahmen abschließend erörtert. Dem wollte ich eigentlich nichts mehr hinzufügen.
Es tauchte aber der Begriff des Rekristallisationsglühens auf und da gibt es eben die von mir angesprochenen Erscheinungen, die nicht allgemein bekannt sind.
Was die Kaltverformung durch Abscheren angeht, hat Herbert sicher recht.
Da liegen ganz massive Verformungen vor, die die grobe Rekristallisation ausschließen. Die Frage ist allerdings, ob sie durch Rekristallisationsglühen-also ohne Umwandlung und Umformung alleine- ausreichend zu beseitigen sind.
Wenn Du mit hinreichend Aufmaß arbeitest, sollten die kaltverformten Zonen eigentlich sowieso abgearbeitet sein.
Die Verzugsprobleme können daher auch auf eingebrachten Wärmespannungen beim Schleifen und Bohren und auch beim Feilen beruhen.
Man sollte das Feilen nicht unterschätzen, meine Feilspäne waren oft gelb und blau und die unangenehmste Verbrennung habe ich mir geholt, als ich mich mit dem Unterarm auf eine gerade von mir gefeilte Klinge lehnte.
MfG U. Gerfin
 
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Hat man Eigenspannungen 2. Art, also in kleinen Werkstückbereichen (in der Nähe der Abschlagkante, z.B.), so reicht es,dieses Volumen wegzunehmen, und es gibt keinen Verzug mehr.
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Wenn Du mit hinreichend Aufmaß arbeitest, sollten die kaltverformten Zonen eigentlich sowieso abgearbeitet sein.
Die Verzugsprobleme können daher auch auf eingebrachten Wärmespannungen beim Schleifen und Bohren und auch beim Feilen beruhen.
Aufmaß - das ist es.
Die Glühbehandlung hatte ich als bequeme(re)s Mittel angesehen, aber offenbar ist es *allein* nicht wirklich geeignet.

Ich werde das künftig noch genauer berücksichtigen und im Auge behalten - auch die entstehenden Temperaturen beim Bearbeiten, obwohl ich da schon ziemlich aufpasse -> Fingerthermometer.

Gruß Andreas
 
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