Daß Du die Frage nach dem "warum" stellst, ehrt Dich. Es ist die gescheiteste Frage der Welt. Daß sie gerade für Studenten typisch ist- na ja, lassen wir das.
Ich kann nicht glauben, daß in den Beiträgen hier im Forum die Frage nach den Gründen des sofortigen Anlassens nicht beantwortet worden ist. Sie liegen eigentlich auch auf der Hand:
1. Der gehärtete Zustand des Stahls ist durch hohe Eigenspannungen gekennzeichnet, die auch ohne Fremdeinwirkung zu Rissen führen können. Es gibt genug Leute, die das häßliche "Ping-Geräusch" kennen, mit denen zu lange nach dem Härten liegengelassene Werkzeuge reißen. Selbst wenn die Härtung samt Vorbehandlung so gut war, daß durch die Spannungen selbst kein Schaden entsteht, ist der nur gehärtete Zustand gegen Einwirkungen von außen empfindlich. Ein Engländer hat mal die Wirkung des Anlassens als "changing glass to whalebone" beschrieben. Das ist sicher übertrieben- auch der nicht angelassene Martensit ist nicht so empfindlich wie Glas, aber spröde und unter Belastung bruchempfindlich ist er schon. Diesen Zustand erhöhter Empfindlichkeit wird man so schnell wie möglich verlassen.
2. Nach jeder noch so gelungenen Härtung bleibt Restaustenit übrig.
Der hat die unangenehme Eigenschaft, sich im Laufe der Zeit zu stabilisieren. Läßt man gehärtete Teile ein paar Tage liegen, ist die Chance einen Teil des Restaustenits noch umzuwandeln, so gut wie vertan. Da hilft dann selbst Tiefkühlen nicht mehr viel. Bei sofortigem Anlassen hat man dagegen die Chance, einen Teil des Restaustenits noch in Martensit zu verwandeln, mit der Folge höherer Härte.
Die Vorteile alsbaldigen Anlassens - Vermeidung von Beschädigungen durch die hohen Eigenspannungen, Herabsetzen der Empfindlichkeit und verbesserte Härtewerte- sind so zwingend, daß eigentlich niemand auf sie verzichten sollte. MfG U. Gerfin