Rock'n'Roll
MF Ehrenmitglied
- Beiträge
- 5.874
„Man kann wohl sagen, daß kein Legierungsmetall für Werkzeuge so wertvoll ist wie das Wolfram; …“
F. Rapatz, Die Edelstähle 5. Auflage 1962, Seite 218
„Die für feinschneidige Werkzeuge besonders günstigen Legierungselemente sind: Kohlenstoff, Stickstoff, Chrom, Wolfram, Niob/Tantal (als Karbidbildner). ….. In jedem Fall ist Wolfram dem Vanadium vorzuziehen, da es bei gleicher Mengenzugabe wesentlich kleinere und besser verteilte Karbide fast gleicher Härte bildet.“
Roman Landes, Messerklingen und Stahl, 2. Auflage 2006, Seite 88
Boas,
der Sündenbock - die Größe ideal, Handlage und Haptik könnten nicht besser sein. Den Schalen aus Steinbockhorn kann aus meiner Sicht auch das wunderbare Ceylon Eisenholz oder die feurige Padoukwurzel nicht das Wasser reichen. Edel die fein gehämmerten Kupferpins. MEIN Messer …
Der Wolframstahl dürfte über jeden Zweifel erhaben sein. Und die Geometrie. Ich liebe diesen - aus jeder Perspektive betrachtet - perfekt ballig ausgeschliffenen Klingenverlauf. Ein sanfter Bogen zieht sich vom Klingenrücken runter bis zur scharfen Schneide. Ebenso sanft und gestreckt verläuft er gleichzeitig auch vom Ricasso aus in Richtung Klingenspitze.
Greift man das Messer und hält die Klinge waagerecht vor sich, erschließt sich einem diese Klingenerotik. Das Auge ruht auf den Rundungen und genießt, wenn sich bei leichten Drehbewegungen das Licht im matten Glanz spiegelt. Das ist Hohe Schule der Messerbaukunst, was ich hier in der Hand halte. Was die Erotik angeht, zieht sie sich durch bis zum Schluß. Zum Schluß der Steinbockhornschalen. Die Bilder sprechen am besten für sich …
Das Klingenfinish verdient besondere Beachtung. Daniel hat alles gegeben. Vor dem letzten Anlassen hat er die Klinge brüniert und dann den Hauptarbeitsbereich, der in der Regel beim Schneiden „aktiv“ ist, wieder poliert - die Brünierung nur in Griffnähe stehen lassen. Dann die Klinge ein letztes Mal angelassen, was dazu führt, daß sie nun im vorderen Bereich die leicht orange-rötliche Anlaßfarbe zeigt, die über sattes Blau in Blaugrau übergeht. Ein Klingen-Gemälde …
Wohlwissend, daß diese Pracht nicht von Dauer sein würde, habe ich mir nach einer Weile des Genießens und einigen Bildern am zweiten Tag ein Herz gefaßt und einen Apfel geschält. Nach zwei Äpfeln ist die Anlaßfarbe im wesentlichen dahin!! Klassisch graue Patina mit leicht bläulichem Schimmer stellt sich ein. Nach der ersten Apfelsine ist die Anlaßfarbe Geschichte. Ein Jammer …
Ganz unabhängig von dieser ganz speziellen Klinge, ist es für Freunde einer sich natürlich entwickelnden Patina ein Segen, daß Daniel seine Klingen im Bereich des Ricassos brüniert. So kann im vorderen Bereich die Patina gedeihen. Natürliche Patina und Brünierung gehen langsam ineinander über und führen im Ergebnis schon nach kurzem Gebrauch zu einem harmonischen Gesamt-Klingenbild.
Der Sündenbock …
Der „Sündenbock“ steht für die Tatsache, daß demjenigen, der mit offenen Augen durch die Welt spaziert, Dinge begegnen, die dem Wohlbefinden abträglich sind. Umweltzerstörung und unreflektierter, rücksichtsloser Umgang mit derselben können einfühlsame Menschen zur Verzweiflung treiben. Diesem Umstand - ganz allgemein den allgegenwärtigen Schattenseiten des Lebens - ist der Sündenbock gewidmet. In Daniels Worten:
„Ich hab das Teil "Sündenbock" genannt, weil ich schon lange daran gedacht habe, einmal nicht die Schokoladenseite der Inspiration zu zeigen, sondern die dunkle, böse, traurige Seite die immer da ist und mit der die gute Inspiration immer klarkommen muss....
Er besteht nicht aus klagendem Blues und ist auch kein schreiend erhobener Zeigefinger eines Wanderpredigers,.... Trauer und das Gefühl der Machtlosigkeit gehören ebenfalls nicht zu seinem Wesen sondern geschmiedeter 2516, Steinbockhorn und Kupfer....Stärke, Trotz und Leitfähigkeit auf einer Gesamtlänge von 185 mm....“
Ganz abgesehen von der Eigenschaft des Messers, verläßliches Werkzeug zu sein, gefällt mir diese Sichtweise der Dinge, wie Daniel sie betrachtet. Ich verstehe diese Sichtweise nur zu gut und kann mich damit identifizieren. Ob Deutschland, Thailand oder südliches Portugal - es gibt keine Paradiese mehr. Manchmal kann einen die Schwermut befallen. Und Stärke wie Trotz sind geeignete Mittel, den Gegebenheiten zu begegnen. Gut, wenn es dabei einen Begleiter gibt, der diese Eigenschaften faktisch und symbolisch in sich vereint.
Steinbockhorn …
Die Eigenschaft „Trotz“ hat Daniel dem Steinbockhorn zugedacht. Ein passenderes Material hätte es nicht sein können. Gelten Steinböcke doch u.a. als introvertiert und stur. Sie haben in der Regel ihren eigenen - ganz speziellen - Standpunkt. Was auch für Ziegenböcke gilt, wie das hier stellvertretend abgelichtete Exemplar eindrucksvoll belegt.
Die Herkunft des Horns ist bekannt. Es stammt aus einem viele Jahre zurückliegenden Fund in den Schweizer Alpen. Es war ein gestürzter - kein geschossener - Bock. Alle bisherigen Steinbockhorn-Griffschalen aus dem Hause Boll entstammen diesem Fund. Mit dem „Sündenbock“ endet diese Ära.
Zu erwähnen wäre noch, daß sowohl Daniel als auch ich dem Tierkreiszeichen Steinbock zugehören. Was dem Messer eine sehr persönliche Note verleiht …
Silberstahl …
„Die Bezeichnung "Silberstahl" hat nichts mit der Legierung, sondern mit der blank gezogenen Oberfläche zu tun. Früher wurde meist der Stahl 1.2516 so be- und gehandelt, aus Kostengründen wurde er durch den für unsere Zwecke nicht ganz so geeigneten 1.2210 ersetzt. 1.2516 ist aber noch im Handel- allerdings in der Regel in Rundmaterial.“
U. Gerfin
Daniel meint dazu:
„Der Chrom-Vanadium legierte Silberstahl 2210 ist für Messerklingen meiner Meinung nach etwas spröde. Trotzdem ist er für stárkere Winkel geeignet. Körner, Schlagstempel und ähnliches werden in Deutschland hauptsächlich daraus gefertigt. Er bietet ein gutes Preiss-Leistungs-Verhältnis.
Der 2516 ist in jeder Hinsicht deutlich besser aber wesentlich teurer als der 2210 (Wolfram ist teuer). Also klar warum der 2516 nicht grossflächig verwendet wird, der billigere 2210 tut‘s ja auch.
Beide Stähle schmieden sehr einfach, was besonders beim von Hand schmieden ins Gewicht fällt. Der 2516 schweisst auch sehr einfach und ist eine ausgezeichnete Damast-Komponente. Meiner Meinung nach, ausser für drei Lagen Stahl viel zu schade für Damast. Auf jeden Fall eine Legierung die seit 120 Jahren verwendet wird .....“
In der 3. Auflage von Franz Rapatz 1942 finden wir die Wolfram-Fraktion unter der Rubrik Kaltarbeitswerkzeugstähle in der Übersicht „Werkzeugstähle für Schneidwaren und Maschinenmesser“. Daniel hat mir zur Anschauung eine Kopie der Übersicht gemailt. Ich habe das als Anlaß genommen und mir das Werk mal zugelegt.
Dazu ist anzumerken, daß der Rapatz ganz grundsätzlich - und besonders in seiner 5. verbesserten und erweiterten Auflage 1962 mit seinen 1042 Seiten und 1540 Gramm Gewicht keine Bettlektüre, sondern in jeder Hinsicht schwere Kost und eine echte Herausforderung ist. Aber es kann ja nicht schaden, ab und zu mal einen Blick reinzuwerfen …
Daniel ist begeistert vom 2516, meint, daß er die beeindruckendste Schärfe der Wolframstähle annimmt. Trotzdem ist er in der Verwendung bei ihm etwas in den Hintergrund geraten, da er - bedingt durch das Schmieden - mit hohem Aufwand verbunden ist. Das folgende (autorisierte) Bild von der Homepage vermittelt einen groben Eindruck, wovon die Rede ist …
Die Klinge des „Sündenbock“ entstammt einer Stahlwelle von 20 mm Durchmesser, die von Hand auf etwa 3-Komma-Etwas runtergeschmiedet und dann mit dem Bandschleifer auf Endstärke geschliffen worden ist.
Im folgenden habe ich für Interessierte noch kurz die Bestandteile des 1.2210 und der wolframlegierten Kaltarbeitsstähle, die mir mittlerweile in Gestalt schneidfreudiger Messerklingen zur Verfügung stehen, gegenübergestellt:
1.2210 aka 115CrV3: C: 1,2 Si: 0,2 Mn: 0,3 Cr: 0,7 V: 0,1 (Silberstahl)
Die wolframlegierten Kaltarbeitsstähle
1.2442 aka 115 W 8: C: 1,15 Si: 0,25 Mn: 0,35 Cr: 0,2 W: 1,8-2,1
1.2513 TWR aka 135WCrV4: C: 1.30-1.40, SI: 0.20-0.40, Cr: 0.30-0.40, V: 0.10-0.20, W: 0.80-1.10 (Sonderlegierung Böhler)
1.2516 aka 120WV4: C: 1,2 Si: 0,2 Mn: 0,3 Cr: 0,2 V: 0,1 W: 1,0 (Silberstahl)
1.2519 aka 110WCrV5: C: 1,1 Si: 0,15 Mn: 0,3 Cr: 1,2 V: 0,2 W: 1,3 %
Arbeiten mit dem Sündenbock …
Geeignet als Allrounder, gebrauche ich ein Messer dieser Art in der Regel zu Anfang solange in der Küche, bis sich eine befriedigende Patina eingestellt hat. Auch zur gelegentlichen Nachbesserung derselben, wenn erforderlich. Apfelschälen und -zerteilen - neben ein paar Schnitten in Papier mein genereller Einstiegs-Checkup für ein neues Messer - bewältigt der Sündenbock, wie zu erwarten, zufriedenstellend.
Sein wahres Potential aber gibt er zu erkennen, wenn man am Holz damit arbeitet. Die Klingengeometrie erlaubt einen mehr als befriedigend feinen Abtrag - eine meiner Leidenschaften :love-struck:!! Zunächst die obere Rinde entfernen, dann in einem zweiten Schritt die darunter liegende Rindenhaut und schließlich die Feinpolitur des Hölzchens sind für mich fortwährender Quell der Freude und Entspannung.
Je gestreckter der konvexe Kurvenverlauf und flacher der Schneidenwinkel, desto erfreulicher verläuft dieser Vorgang. Der Spagat, den der Messerbauer immer dabei eingeht, besteht ja in der möglichst optimalen Erreichung dieses Ideals bei gleichzeitiger Berücksichtigung einer ausreichenden Stabilität der Klinge.
Das erforderliche Ausmaß dieser Stabilität wiederum hängt essentiell ab vom Anwenderverhalten und Einsatzzweck des Messers. Die Klinge des „Sündenbock“ ist im Schneidenbereich mit einer winzigen Fase versehen und bietet zwei Optionen. Die eine, es so zu belassen, wenn die Nutzung oder die persönliche Präferenz es so wollen.
Die andere? Die Geometrie nach persönlichem Gusto zu optimieren. Dazu bediene ich mich - wie schon so oft - der imho perfekten Methode, die Klinge mit Micro Mesh und Mousepad solange regelmäßig wiederkehrend abzuziehen (zu stroppen), bis nach und nach - und in aller Ruhe - die Fase verschwunden ist (die Schulter der Fase wird langsam und stetig verrundet) und die Klinge in einem langgestreckten Bogen konvex auf Null läuft.
Wie auch bei Daniels anderen Messern habe ich mit dieser - von mir favorisierten - Geometrie bisher keinerlei Ausfallerscheinungen erlebt. Und - die mit dem 2516 so erreichbare Schärfe ist in der Tat beeindruckend.
Die Trageeigenschaften des Messerchens sind seiner Größe wegen - inkl. Scheide gerade mal genau 20 Zentimeter - für meine Belange ideal. Rucksack, Jackentasche, Hosentasche - man hat die Wahl. Bedingt durch den gut strammen Clip aus 1.1274 (CK 101) läßt es sich natürlich auch bestens hinter den Gürtel oder in den Hosenbund schieben. Neben der zweckmäßigen Methode zudem fabelhafte „Angeber-Option“, um das kleine Gesamtkunstwerk in der Öffentlichkeit vorzuführen ...
Der äußere Mantel besteht aus deutschem Rindleder: "Edelgerbung". Der sich nach unten hin langsam verjüngende Clip mit Bussard-Logo und feiner Riffelung an seiner Spitze folgt perfekt dem leichten Bogen der Scheide. Oben schauen etwa 2,8 cm Steinbock raus. Was könnte schöner sein …
Der elegante, ästhetische Auftritt des Sündenbock ist seinem Gebrauch in der Öffentlichkeit zuträglich, wie sich bei Augusto gezeigt hat. Während ich in Gegenwart der Fischer mittlerweile jegliche Hemmung im Gebrauch verschiedenster Schneidwerkzeuge verloren habe, gebietet der momentane Zustand eines restlos überfüllten Monte Gordo und die damit verbundene reichhaltige Anzahl von Badegästen auch in der kleinen Kneipe eine gewisse Zurückhaltung.
Beim Sündenbock allerdings hatte ich sofort den Eindruck, niemanden in Angst und Schrecken zu versetzen. Und habe ungeniert zugelangt. Im Ergebnis läßt sich sagen, daß seinen positiven Eigenschaften auch die der Sozialverträglichkeit hinzuzurechnen ist.
Der Sündenbock - alles in allem eine Symbiose aus perfektem Werkzeug und Augenweide. Die Klinge? In der Summe ihrer magischen Eigenschaften Stahl, Wärmebehandlung und Geometrie für mich Referenz.
Enrico hat es mal so formuliert: „… and in the end is BOLL“. Darauf läuft es wohl hinaus …
Der „Sündenbock“ - Ein Messerchen aus der Schmiede von Daniel Jeremiah ‚Wolfram‘ Boll
1.2516 aka 120WV4: C: 1,2 Si: 0,2 Mn: 0,3 Cr: 0,2 V: 0,1 W: 1,0 (Silberstahl)
Fixed
Gesamtlänge: 183 mm (200 mm inkl. Scheide)
Klingenlänge: 84 mm (80 mm scharf entlang der Schneidfase gemessen)
Klingenhöhe: 20,63 mm max.
Klinge: 2,7 mm 1.2516 (120WV4), 60-61 HRC, Ricasso zwischen 7 & 9 mm mit Bussard, keine Schleifkerbe
Griff: 99 mm Steinbockhorn mit natürlichen „Grooves“, 3 fein gehämmerte Kupferpins je Seite
Griffdicke: Vorn - Mitte - hinten: 14,66 - 15,7 - 20,5 mm
Griffhöhe: Vorn - Mitte - hinten: 20,33 - 21,5 - 28,5 mm
Gewicht: 93 Gramm (mit Scheide 161 Gramm)
Formstabile schwarze Scheide aus deutschem Rindleder („Edelgerbung“) mit Klemmer aus Federstahl CK 101 (1.1274), für Gürtel bis 4,5 cm oder Einklemmen in den Hosenbund, max. Breite 40,33 mm, max. Dicke inkl. Klemmer 28,25 mm, gefüttert mit Walkleder
Seine Referenz, der "Sündenbock" …
Die Jukebox vom aktuellen Album des Ausnahmegitarristen Robin Trower : „Where You Are Going To“
Aus dem sich langsam abkühlenden Brutofen Monte Gordo
R’n‘R
F. Rapatz, Die Edelstähle 5. Auflage 1962, Seite 218
„Die für feinschneidige Werkzeuge besonders günstigen Legierungselemente sind: Kohlenstoff, Stickstoff, Chrom, Wolfram, Niob/Tantal (als Karbidbildner). ….. In jedem Fall ist Wolfram dem Vanadium vorzuziehen, da es bei gleicher Mengenzugabe wesentlich kleinere und besser verteilte Karbide fast gleicher Härte bildet.“
Roman Landes, Messerklingen und Stahl, 2. Auflage 2006, Seite 88
Boas,
der Sündenbock - die Größe ideal, Handlage und Haptik könnten nicht besser sein. Den Schalen aus Steinbockhorn kann aus meiner Sicht auch das wunderbare Ceylon Eisenholz oder die feurige Padoukwurzel nicht das Wasser reichen. Edel die fein gehämmerten Kupferpins. MEIN Messer …
Der Wolframstahl dürfte über jeden Zweifel erhaben sein. Und die Geometrie. Ich liebe diesen - aus jeder Perspektive betrachtet - perfekt ballig ausgeschliffenen Klingenverlauf. Ein sanfter Bogen zieht sich vom Klingenrücken runter bis zur scharfen Schneide. Ebenso sanft und gestreckt verläuft er gleichzeitig auch vom Ricasso aus in Richtung Klingenspitze.
Greift man das Messer und hält die Klinge waagerecht vor sich, erschließt sich einem diese Klingenerotik. Das Auge ruht auf den Rundungen und genießt, wenn sich bei leichten Drehbewegungen das Licht im matten Glanz spiegelt. Das ist Hohe Schule der Messerbaukunst, was ich hier in der Hand halte. Was die Erotik angeht, zieht sie sich durch bis zum Schluß. Zum Schluß der Steinbockhornschalen. Die Bilder sprechen am besten für sich …
Das Klingenfinish verdient besondere Beachtung. Daniel hat alles gegeben. Vor dem letzten Anlassen hat er die Klinge brüniert und dann den Hauptarbeitsbereich, der in der Regel beim Schneiden „aktiv“ ist, wieder poliert - die Brünierung nur in Griffnähe stehen lassen. Dann die Klinge ein letztes Mal angelassen, was dazu führt, daß sie nun im vorderen Bereich die leicht orange-rötliche Anlaßfarbe zeigt, die über sattes Blau in Blaugrau übergeht. Ein Klingen-Gemälde …
Wohlwissend, daß diese Pracht nicht von Dauer sein würde, habe ich mir nach einer Weile des Genießens und einigen Bildern am zweiten Tag ein Herz gefaßt und einen Apfel geschält. Nach zwei Äpfeln ist die Anlaßfarbe im wesentlichen dahin!! Klassisch graue Patina mit leicht bläulichem Schimmer stellt sich ein. Nach der ersten Apfelsine ist die Anlaßfarbe Geschichte. Ein Jammer …
Ganz unabhängig von dieser ganz speziellen Klinge, ist es für Freunde einer sich natürlich entwickelnden Patina ein Segen, daß Daniel seine Klingen im Bereich des Ricassos brüniert. So kann im vorderen Bereich die Patina gedeihen. Natürliche Patina und Brünierung gehen langsam ineinander über und führen im Ergebnis schon nach kurzem Gebrauch zu einem harmonischen Gesamt-Klingenbild.
Der Sündenbock …
Der „Sündenbock“ steht für die Tatsache, daß demjenigen, der mit offenen Augen durch die Welt spaziert, Dinge begegnen, die dem Wohlbefinden abträglich sind. Umweltzerstörung und unreflektierter, rücksichtsloser Umgang mit derselben können einfühlsame Menschen zur Verzweiflung treiben. Diesem Umstand - ganz allgemein den allgegenwärtigen Schattenseiten des Lebens - ist der Sündenbock gewidmet. In Daniels Worten:
„Ich hab das Teil "Sündenbock" genannt, weil ich schon lange daran gedacht habe, einmal nicht die Schokoladenseite der Inspiration zu zeigen, sondern die dunkle, böse, traurige Seite die immer da ist und mit der die gute Inspiration immer klarkommen muss....
Er besteht nicht aus klagendem Blues und ist auch kein schreiend erhobener Zeigefinger eines Wanderpredigers,.... Trauer und das Gefühl der Machtlosigkeit gehören ebenfalls nicht zu seinem Wesen sondern geschmiedeter 2516, Steinbockhorn und Kupfer....Stärke, Trotz und Leitfähigkeit auf einer Gesamtlänge von 185 mm....“
Ganz abgesehen von der Eigenschaft des Messers, verläßliches Werkzeug zu sein, gefällt mir diese Sichtweise der Dinge, wie Daniel sie betrachtet. Ich verstehe diese Sichtweise nur zu gut und kann mich damit identifizieren. Ob Deutschland, Thailand oder südliches Portugal - es gibt keine Paradiese mehr. Manchmal kann einen die Schwermut befallen. Und Stärke wie Trotz sind geeignete Mittel, den Gegebenheiten zu begegnen. Gut, wenn es dabei einen Begleiter gibt, der diese Eigenschaften faktisch und symbolisch in sich vereint.
Steinbockhorn …
Die Eigenschaft „Trotz“ hat Daniel dem Steinbockhorn zugedacht. Ein passenderes Material hätte es nicht sein können. Gelten Steinböcke doch u.a. als introvertiert und stur. Sie haben in der Regel ihren eigenen - ganz speziellen - Standpunkt. Was auch für Ziegenböcke gilt, wie das hier stellvertretend abgelichtete Exemplar eindrucksvoll belegt.
Die Herkunft des Horns ist bekannt. Es stammt aus einem viele Jahre zurückliegenden Fund in den Schweizer Alpen. Es war ein gestürzter - kein geschossener - Bock. Alle bisherigen Steinbockhorn-Griffschalen aus dem Hause Boll entstammen diesem Fund. Mit dem „Sündenbock“ endet diese Ära.
Zu erwähnen wäre noch, daß sowohl Daniel als auch ich dem Tierkreiszeichen Steinbock zugehören. Was dem Messer eine sehr persönliche Note verleiht …
Silberstahl …
„Die Bezeichnung "Silberstahl" hat nichts mit der Legierung, sondern mit der blank gezogenen Oberfläche zu tun. Früher wurde meist der Stahl 1.2516 so be- und gehandelt, aus Kostengründen wurde er durch den für unsere Zwecke nicht ganz so geeigneten 1.2210 ersetzt. 1.2516 ist aber noch im Handel- allerdings in der Regel in Rundmaterial.“
U. Gerfin
Daniel meint dazu:
„Der Chrom-Vanadium legierte Silberstahl 2210 ist für Messerklingen meiner Meinung nach etwas spröde. Trotzdem ist er für stárkere Winkel geeignet. Körner, Schlagstempel und ähnliches werden in Deutschland hauptsächlich daraus gefertigt. Er bietet ein gutes Preiss-Leistungs-Verhältnis.
Der 2516 ist in jeder Hinsicht deutlich besser aber wesentlich teurer als der 2210 (Wolfram ist teuer). Also klar warum der 2516 nicht grossflächig verwendet wird, der billigere 2210 tut‘s ja auch.
Beide Stähle schmieden sehr einfach, was besonders beim von Hand schmieden ins Gewicht fällt. Der 2516 schweisst auch sehr einfach und ist eine ausgezeichnete Damast-Komponente. Meiner Meinung nach, ausser für drei Lagen Stahl viel zu schade für Damast. Auf jeden Fall eine Legierung die seit 120 Jahren verwendet wird .....“
In der 3. Auflage von Franz Rapatz 1942 finden wir die Wolfram-Fraktion unter der Rubrik Kaltarbeitswerkzeugstähle in der Übersicht „Werkzeugstähle für Schneidwaren und Maschinenmesser“. Daniel hat mir zur Anschauung eine Kopie der Übersicht gemailt. Ich habe das als Anlaß genommen und mir das Werk mal zugelegt.
Dazu ist anzumerken, daß der Rapatz ganz grundsätzlich - und besonders in seiner 5. verbesserten und erweiterten Auflage 1962 mit seinen 1042 Seiten und 1540 Gramm Gewicht keine Bettlektüre, sondern in jeder Hinsicht schwere Kost und eine echte Herausforderung ist. Aber es kann ja nicht schaden, ab und zu mal einen Blick reinzuwerfen …
Daniel ist begeistert vom 2516, meint, daß er die beeindruckendste Schärfe der Wolframstähle annimmt. Trotzdem ist er in der Verwendung bei ihm etwas in den Hintergrund geraten, da er - bedingt durch das Schmieden - mit hohem Aufwand verbunden ist. Das folgende (autorisierte) Bild von der Homepage vermittelt einen groben Eindruck, wovon die Rede ist …
Die Klinge des „Sündenbock“ entstammt einer Stahlwelle von 20 mm Durchmesser, die von Hand auf etwa 3-Komma-Etwas runtergeschmiedet und dann mit dem Bandschleifer auf Endstärke geschliffen worden ist.
Im folgenden habe ich für Interessierte noch kurz die Bestandteile des 1.2210 und der wolframlegierten Kaltarbeitsstähle, die mir mittlerweile in Gestalt schneidfreudiger Messerklingen zur Verfügung stehen, gegenübergestellt:
1.2210 aka 115CrV3: C: 1,2 Si: 0,2 Mn: 0,3 Cr: 0,7 V: 0,1 (Silberstahl)
Die wolframlegierten Kaltarbeitsstähle
1.2442 aka 115 W 8: C: 1,15 Si: 0,25 Mn: 0,35 Cr: 0,2 W: 1,8-2,1
1.2513 TWR aka 135WCrV4: C: 1.30-1.40, SI: 0.20-0.40, Cr: 0.30-0.40, V: 0.10-0.20, W: 0.80-1.10 (Sonderlegierung Böhler)
1.2516 aka 120WV4: C: 1,2 Si: 0,2 Mn: 0,3 Cr: 0,2 V: 0,1 W: 1,0 (Silberstahl)
1.2519 aka 110WCrV5: C: 1,1 Si: 0,15 Mn: 0,3 Cr: 1,2 V: 0,2 W: 1,3 %
Arbeiten mit dem Sündenbock …
Geeignet als Allrounder, gebrauche ich ein Messer dieser Art in der Regel zu Anfang solange in der Küche, bis sich eine befriedigende Patina eingestellt hat. Auch zur gelegentlichen Nachbesserung derselben, wenn erforderlich. Apfelschälen und -zerteilen - neben ein paar Schnitten in Papier mein genereller Einstiegs-Checkup für ein neues Messer - bewältigt der Sündenbock, wie zu erwarten, zufriedenstellend.
Sein wahres Potential aber gibt er zu erkennen, wenn man am Holz damit arbeitet. Die Klingengeometrie erlaubt einen mehr als befriedigend feinen Abtrag - eine meiner Leidenschaften :love-struck:!! Zunächst die obere Rinde entfernen, dann in einem zweiten Schritt die darunter liegende Rindenhaut und schließlich die Feinpolitur des Hölzchens sind für mich fortwährender Quell der Freude und Entspannung.
Je gestreckter der konvexe Kurvenverlauf und flacher der Schneidenwinkel, desto erfreulicher verläuft dieser Vorgang. Der Spagat, den der Messerbauer immer dabei eingeht, besteht ja in der möglichst optimalen Erreichung dieses Ideals bei gleichzeitiger Berücksichtigung einer ausreichenden Stabilität der Klinge.
Das erforderliche Ausmaß dieser Stabilität wiederum hängt essentiell ab vom Anwenderverhalten und Einsatzzweck des Messers. Die Klinge des „Sündenbock“ ist im Schneidenbereich mit einer winzigen Fase versehen und bietet zwei Optionen. Die eine, es so zu belassen, wenn die Nutzung oder die persönliche Präferenz es so wollen.
Die andere? Die Geometrie nach persönlichem Gusto zu optimieren. Dazu bediene ich mich - wie schon so oft - der imho perfekten Methode, die Klinge mit Micro Mesh und Mousepad solange regelmäßig wiederkehrend abzuziehen (zu stroppen), bis nach und nach - und in aller Ruhe - die Fase verschwunden ist (die Schulter der Fase wird langsam und stetig verrundet) und die Klinge in einem langgestreckten Bogen konvex auf Null läuft.
Wie auch bei Daniels anderen Messern habe ich mit dieser - von mir favorisierten - Geometrie bisher keinerlei Ausfallerscheinungen erlebt. Und - die mit dem 2516 so erreichbare Schärfe ist in der Tat beeindruckend.
Die Trageeigenschaften des Messerchens sind seiner Größe wegen - inkl. Scheide gerade mal genau 20 Zentimeter - für meine Belange ideal. Rucksack, Jackentasche, Hosentasche - man hat die Wahl. Bedingt durch den gut strammen Clip aus 1.1274 (CK 101) läßt es sich natürlich auch bestens hinter den Gürtel oder in den Hosenbund schieben. Neben der zweckmäßigen Methode zudem fabelhafte „Angeber-Option“, um das kleine Gesamtkunstwerk in der Öffentlichkeit vorzuführen ...
Der äußere Mantel besteht aus deutschem Rindleder: "Edelgerbung". Der sich nach unten hin langsam verjüngende Clip mit Bussard-Logo und feiner Riffelung an seiner Spitze folgt perfekt dem leichten Bogen der Scheide. Oben schauen etwa 2,8 cm Steinbock raus. Was könnte schöner sein …
Der elegante, ästhetische Auftritt des Sündenbock ist seinem Gebrauch in der Öffentlichkeit zuträglich, wie sich bei Augusto gezeigt hat. Während ich in Gegenwart der Fischer mittlerweile jegliche Hemmung im Gebrauch verschiedenster Schneidwerkzeuge verloren habe, gebietet der momentane Zustand eines restlos überfüllten Monte Gordo und die damit verbundene reichhaltige Anzahl von Badegästen auch in der kleinen Kneipe eine gewisse Zurückhaltung.
Beim Sündenbock allerdings hatte ich sofort den Eindruck, niemanden in Angst und Schrecken zu versetzen. Und habe ungeniert zugelangt. Im Ergebnis läßt sich sagen, daß seinen positiven Eigenschaften auch die der Sozialverträglichkeit hinzuzurechnen ist.
Der Sündenbock - alles in allem eine Symbiose aus perfektem Werkzeug und Augenweide. Die Klinge? In der Summe ihrer magischen Eigenschaften Stahl, Wärmebehandlung und Geometrie für mich Referenz.
Enrico hat es mal so formuliert: „… and in the end is BOLL“. Darauf läuft es wohl hinaus …
Der „Sündenbock“ - Ein Messerchen aus der Schmiede von Daniel Jeremiah ‚Wolfram‘ Boll
1.2516 aka 120WV4: C: 1,2 Si: 0,2 Mn: 0,3 Cr: 0,2 V: 0,1 W: 1,0 (Silberstahl)
Fixed
Gesamtlänge: 183 mm (200 mm inkl. Scheide)
Klingenlänge: 84 mm (80 mm scharf entlang der Schneidfase gemessen)
Klingenhöhe: 20,63 mm max.
Klinge: 2,7 mm 1.2516 (120WV4), 60-61 HRC, Ricasso zwischen 7 & 9 mm mit Bussard, keine Schleifkerbe
Griff: 99 mm Steinbockhorn mit natürlichen „Grooves“, 3 fein gehämmerte Kupferpins je Seite
Griffdicke: Vorn - Mitte - hinten: 14,66 - 15,7 - 20,5 mm
Griffhöhe: Vorn - Mitte - hinten: 20,33 - 21,5 - 28,5 mm
Gewicht: 93 Gramm (mit Scheide 161 Gramm)
Formstabile schwarze Scheide aus deutschem Rindleder („Edelgerbung“) mit Klemmer aus Federstahl CK 101 (1.1274), für Gürtel bis 4,5 cm oder Einklemmen in den Hosenbund, max. Breite 40,33 mm, max. Dicke inkl. Klemmer 28,25 mm, gefüttert mit Walkleder
Seine Referenz, der "Sündenbock" …
Die Jukebox vom aktuellen Album des Ausnahmegitarristen Robin Trower : „Where You Are Going To“
Aus dem sich langsam abkühlenden Brutofen Monte Gordo
R’n‘R
Anhänge
Zuletzt bearbeitet: