Der BESS-Tester

Valentinian II

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Wer viel misst, misst Mist - oder warum man BESSer aufpasst, bevor man irgendwelchen vermeintlich exakten Messergebnissen blind glaubt


Was ist der BESS-Test?

Der BESS-Tester besteht aus einer Waage, in die ein Faden eingespannt wird. Dieser wird vom zum prüfenden Messer durchgeschnitten und die Anzeige der Waage gibt die dafür nötige Kraft an. Mehr ist da nicht hinter.

Die verschiedenen Modelle der BESS-Tester unterscheiden sich lediglich in der Auflösung der Messergebnisse (auf 1, 5, 25 Gramm "genau") und der Messfrequenz (50, 25, 10 Hz) sowie einigen Verarbeitungs- und Komfortfeatures, die aber keine direkten Auswirkungen auf die Messung haben. Ob dem tatsächlich eine andere Kraft- und Zeitauflösung zu Grunde liegt oder die Software aus preispolitischen Gründen bei den günstigeren Modellen gröber rundet, kann ich nicht sagen. Aber gerade das "1 g" und das "5 g" Modell sehen schon verdächtig gleich aus...

Der BESS-Test ist also im Grunde ein HHT (Hanging Hair Test, setze ich hier mal als Grundwissen voraus ;)) mit extra steps. Statt eines Menschen- oder Haustierhaars, die sich in Dicke und Oberflächenstruktur von Individuum zu Individuum und sogar von Haar zu Haar unterscheiden, wird das BESS-Testmedium verwendet, wobei diese beiden Eigenschaften immer gleich sind. Der zweite Vorteil (ob es einer ist - darüber kann man streiten) ist, dass anstatt einer phänomenologischen Skala (wie wird das Haar geschnitten) ein Zahlenwert ausgegeben wird, der für bessere Vergleichbarkeit sorgen soll. Alle weiteren Probleme wie fehlende Druckkontrolle und die schwierige Umsetzung eines möglichst reinen Druckschnitts löst BESS erst einmal nicht. Dazu später mehr.


Was kann der BESS-Test?

Einen Messwert ausgeben, der eine nichtlineare (halber Radius führt nicht zu halben Messwerten) Funktion des Radius/Durchmessers am Schneidenscheitel ist und damit eine Art Schärfe für einen reinen Druckschnitt quantifiziert.


Was kann der BESS-Test nicht?
  • Eine Aussage über die Schärfe für einen konkreten Anwendungsfall (z. B. Holz schnitzen, Bart rasieren, Apfel in der Hand schneiden, Zwiebel auf dem Brett würfeln, etc.) treffen.
  • Eine Aussage über die Schärfe an anderen Stellen der Klinge als der getesteten Stelle treffen.
  • Mehr als einen leichten Hinweis über die tatsächliche Beschaffenheit des Schneidenscheitels treffen (vollständig entgratet ja/nein, Beschaffenheit des Restgrates, Mikrozahnung) geben
  • Eine Aussage über die Schärfe beim Zugschnitt treffen (bei einer kurzen Recherche für diesen Thread habe ich gesehen, dass der Hersteller auch ein Gerät anbietet, dass so etwas messen können soll – ich habe aber gerade weder die Zeit dazu, mich da einzulesen, und natürlich erst recht keine praktische Erfahrung damit)
  • Eine Aussage über den BESS-Wert treffen, den eine andere Person mit demselben Messer und denselben sonstigen Umständen gemessen hätte.

Welche weiteren Probleme gibt es beim BESS-Test?

Wenn man gute (und damit meine ich richtige und präzise, nicht zwangsläufig niedrige) Ergebnisse erzielen möchte, ist es entscheidend, dass man alle Faktoren vermeidet, die das Ergebnis verfälschen. Damit ist gemeint, alle Faktoren auszuschließen, die den angezeigt Wert verringern, ohne dass dies auf einen veränderten Krümmungsradius des Schneidenscheitels zurückzuführen wäre. Dazu gehören:

  • Möglichst langsam und ohne Druck die Klinge absenken. Ich sag’s ungern (mag den Laden aus Gründen nicht sonderlich), aber diese Vorrichtung zur Druckkontrolle von Schleifjunkies sieht gut aus und sollte das Problem größtenteils eliminieren. Benutzt habe ich es aber noch nie (und es verdoppelt auch einfach mal die nötigen Investitionen in euer Schärfetestequipment).
  • Einen möglichst perfekten Flachschliff am Messer. Die Schneidengeometrie beeinflusst das Messergebnis (und ich habe keine Ahnung, in welche Richtung sich z. B. ein balliger Anschliff auswirken wird). Im Bereich, wo es überhaupt Sinn macht, Schärfe quantifizieren zu wollen, geht es um Schneidenradien im Bereich von hundert Nanometern bis einigen wenigen Mikrometern. Das Testmedium von BESS hat einen Durchmesser von etwa 230 Mikrometern und ist damit hundert- bis tausendmal dicker als der zu testende Bereich der Schneide. Man muss also davon ausgehen, dass die Schneide den Faden zwar nicht über den gesamten Durchmesser zerschneidet, aber doch in den Faden eindringt, bevor er reißt, wodurch die Eigenschaften hinter dem unmittelbaren Scheitel der Schneide ebenfalls zum Tragen kommen. Einen mehr oder weniger perfekten Flachschliff wird man bei einer Sekundärfase wohl nur mit System hinbekommen. Falls die Schneidfase die Primärfase ist wie bei Rasiermessern, Taschenmessern mit Scandischliff (gerne korrigieren, beide Themen sind dünnes Eis für mich) oder vielen japanischen Single-Bevel-Messern, dürfte es auch frei Hand gehen.
  • Die Schneide muss möglichst perfekt entgratet sein. Ein Foliengrat führt zu lächerlich niedrigen Messergebnissen, überlebt aber den ersten Kontakt zum Schnittgut kaum (und repräsentiert natürlich auch nicht den Scheitelradius); ein umgelegter Grat hingegen führt dazu, dass man viel höhere Werte misst, als es der Scheitelradius verspricht. Die SEM-Aufnahmen sind Links zu Science of Sharp.
  • Man muss einen perfekten Druckschnitt durchführen. Jegliche Zugschnittkomponente führt dazu, dass man deutlich zu niedrige Werte misst, und das ist völlig unreproduzierbar. Es ist auch kaum zu vermeiden. Jedes Menschen Hände zittern leicht; kaum ein Messer hat eine perfekt gerade Schneide (und jede Krümmung, egal ob an der zu testenden Stelle oder der aufliegenden Stelle führt zu einer beträchtlichen Zugschnittkomponente); es ist sehr schwierig, das Messer perfekt waagerecht abzusenken.


Wie bestimmt man dann die Schärfe eines Messers?

Geht’s raus und schneidet’s Schnittgut! – F. Beckenbauer. Oder so.


Fazit

So, das mag jetzt wie ein Oberlehreraufschrieb mit Anspruch auf absolute Wahrheit (TM) aussehen, soll aber eigentlich der Start einer Diskussion sein. Korrigiert mich gerne, wenn ihr anderer Meinung seid oder Fehler findet, oder teilt einfach eure Erfahrungen mit dem BESS-Tester!

Mein Fazit ist jedenfalls, dass ein BESS-Tester ein gutes Mittel ist, um die eigenen Schleifergebnisse miteinander zu vergleichen, und ein schlechtes Mittel ist, um Schleifergebnisse verschiedener Personen miteinander zu vergleichen. Das BESS-Experiment ist also fachsprachlich wiederholbar (repeatable), aber nicht reproduzierbar (reproducible).

Die Messwerte sollte man immer nur als relative, aber nicht absolute Wahrheit betrachten. Eine gute Anwendung eines BESS-Testers hat @Doldini neulich hier gezeigt, wo mit vergleichbaren Messern die Unterschiede zwischen verschiedenen Schleifmitteln gezeigt wurden; das Gegenteil haben wir heute hier gesehen, wo eine (zu Recht in diesem Forum nicht unbeliebte Firma) die Schärfe ihrer Messer mit einer einzigen, unqualifizierten Zahl bewirbt.

Ob man für die, je nach Modell und Händler, gut 150 bis knapp 400 Euro sich nicht doch lieber noch ein schönes Gyuto (davon hat man schließlich immer genau eines zu wenig) kauft, bleibt euch überlassen.


Anhang: Vokabular
  • Richtigkeit: Eine Messung ist dann richtig, wenn sie dem wahren Wert, normalerweise repräsentiert durch eine Referenz mit bekanntem Wert, möglichst nahekommt. Mit BESS kaum sinnvoll zu ermitteln, eine Alternative könnte eine SEM-Messung des Schneidenscheitels sein. Aber Elektronenmikroskopie zu Hause ist dann doch selbst für den ambitioniertesten Hobbyschleifer drei Nummern zu teuer.
  • Präzision: Eine Messung ist dann präzise, wenn ihre Wiederholung (nahezu) gleiche Ergebnisse liefert.
  • Wiederholbarkeit: Eine Messung ist dann wiederholbar, wenn dieselbe Person ohne Änderung eines Messparameters die (nahezu) gleichen Messwerte erhält. In diesem Fall misst dieselbe Person dasselbe Messer mit demselben Bess-Testgerät unter denselben Bedingungen mehrmals hintereinander. Teilaspekt der Präzision.
  • Reproduzierbarkeit: Eine Messung ist dann reproduzierbar, wenn die Messung unter anderen, aber möglichst genau nachgestellten Bedingungen die (nahezu) gleichen Messwerte liefert. In diesem Fall könnte z. B. dasselbe Messer von einer anderen Person an einem anderen, baugleichen BESS-Tester durchgeführt werden. Teilaspekt der Präzision.
 
Korrigiert mich gerne
Was soll da korrigiert werden? Ein sachlicher Bericht ohne Verteufelung.
Mein Fazit ist jedenfalls, dass ein BESS-Tester ein gutes Mittel ist, um die eigenen Schleifergebnisse miteinander zu vergleichen
Wenn man das Teil so benutzt, macht man sich die Arbeitsergebnisse zählbar und kann sich und den geleisteten Aufwand einschätzen.
In Verbindung mit einem Mikroskop bekommen die ermittelten Werte zudem ein "Gesicht".
die Schärfe ihrer Messer mit einer einzigen, unqualifizierten Zahl bewirbt.
Bei meinem Petty mit Harmonlinie lag der Zettel mit dem Wert 70 bei. Die Firma scheint zumindest nicht immer den gleichen Wert zu verwenden.
Für mich ist das ein Hinweis darauf, dass ich mindestens einen 90er Wert erreichen oder einen Fehler finden muss. Da bietet der Tester Motivation für´s Weitermachen.
Werbung macht der Hersteller der Messer auf der HP eigentlich damit, dass der Bess Wert unter 150 liegt. Das Prüfergebnis siehst Du ja erst, nachdem Du die bestellte Ware erhalten hast.

400 Euro sich nicht doch lieber noch ein schönes Gyuto (davon hat man schließlich immer genau eines zu wenig) kauft
Im Gegensatz zu den Messer reicht ja ein Tester.
Nach drei Monaten mit dem Bess Tester bin ich der Meinung, die Version mit 1g Auflösung ist unnötig. Die günstigere 5g Version kann den Trend beim Schleifen ebenso aufzeigen.

Deinen Anhang mit der Definition des von Dir verwendeten Vokabulars finde ich lobens- und nachahmenswert.
 
Ja, dafür gibt es auch Clips mit vorgespannten Drähten, und Schleifjunkies nimmt ein Gewicht zum Spannen des Drahts um möglichst vergleichbar zu bleiben.
 
Ich hatte bei einem Video auf YouTube Mal gesehen wie jemand Bess 4-6g erreicht hatte aber langsam drückend. Absolut irre, aber den ersten Brettkontakt wird es nicht überleben. Auch hieß es im Video, der Bauch einer Klinge beeinflusst das Ergebnis erheblich.
Ganz gut hat's auch Jerad Neeve beschrieben in diesem Video hier.
Getreu dem Motto: Traue keiner Statistik die du nicht selbst gefälscht hast

Danke dennoch @Valentinian II für das Zusammentragen all dieser Informationen. Sehr hilfreich und interessant! Vieles davon im Detail wusste ich bisher auch nicht.
 
Sehr schöner Beitrag von dir. Danke, dass ich dazulernen durfte :super:
Das von dir verlinkte Video fand ich gut zum Thema passend (auch wenn du den "Laden" nicht sehr magst)

Das Testmedium von BESS hat einen Durchmesser von etwa 230 Mikrometern...
Eine weitere Schwierigkeit sehe ich hier übrigens noch in der Reproduzierbarkeit der Schnur (Meter für Meter und Jahr für Jahr der exakt gleiche Durchmesser (0,23mm) bei exakt gleichen Materialeigenschaften).
 
dafür gibt es auch Clips mit vorgespannten Drähten
Hab sie nie benutzt, aber der Hersteller sagt selbst, dass man mit den Dingern zu niedrige Werte erreicht. Hier erkauft man also Präzision auf Kosten der Richtigkeit, was aber wahrscheinlich ein guter Deal für den Heimgebrauch ist.
Ich hatte bei einem Video auf YouTube Mal gesehen wie jemand Bess 4-6g erreicht hatte aber langsam drückend. Absolut irre, aber den ersten Brettkontakt wird es nicht überleben.
Einstellige BESS-Werte schreien hallo, hier bin ich, dein Foliengrat!
Auch hieß es im Video, der Bauch einer Klinge beeinflusst das Ergebnis erheblich.
Ja, genau das ist es, was ich meine, dass die Krümmung des Klingenprofils zu einer Zugschnittkomponente führt. Dafür muss der Bauch nicht einmal an der zu testenden Stelle sein, wenn er dort ist, wo das Messer aufliegt, wird die Teststelle schräg zum Faden geführt. Das erleichtert den Schnitt beträchtlich - daher haben ja auch z. B. Guillotinen und Schlauchschneider schräge Klingen - so kann ein senkrechter Schnitt nach unten trotzdem eine Zugschnittkomponente haben.
 
@Valentinian II das ist ein sehr schöner und vor allem aufschlußreicher Bericht. Und sehr gut aufgebaut, auch die Sache mit dem Glossar.
Ich merk mir das mal, wenn ich mal wieder einen Prüfbericht einstelle, dann hänge ich auch sowas an.
Du hast vor allem nicht das Dings verteufelt, sondern sachlich die Tatsachen und Schwierigkeiten dargestellt. Messen ist halt nichts für "mal eben so".
Danke Dir nochmal für Deine Mühe
Herbert
 
Ich finde diesen Artikel auch sehr empfehlenswert für eine Foren-FAQ. Als Neuling kann man mit „Bess“ ja nichts anfangen.
 
Einstellige BESS-Werte schreien hallo, hier bin ich, dein Foliengrat!
Hab das Video gefunden, in den Kommentaren beschreibt er seinen Schärfe-Verlauf...glaube aber auch an überspanntem Faden oder sonstigen, begünstigen Mitteln sonst würde man sowas häufiger sehen können.
Besser in der Küche schneiden wird das Messer dadurch nicht, von daher auch eher irrelevant. Wollte nur Mal das Extrem aufzeigen.
 
Ich nutze Ihn für die Kontrolle meiner Ergebnisse. Wenn das Ziel ist sich selbst zu kontrollieren, kommt man schon gut damit zurecht und es lassen sich reproduzierbare Ergebnisse erziehlen. Aber ich stimme voll zu, es hängt sehr stark von der Herangehensweise ab.
 
@Valentinian II Vielen Dank für deinen äusserst informativen Bericht. Genau wegen solchen Posts liebe ich dieses Forum.

Ich will jedoch einen Aspekt, der hier noch nicht zu Sprache kam, hinzufügen. Dies weil ich befürchte, dass mit dieser Messmethode vom wesentlichen abgelenkt wird. Ich schleife meine Messer, weil ich damit erreichen will, dass die Messer ihre Aufgabe zu Schneiden erfüllen können. Das Ermitteln des BESS-Wertes verleitet jedoch dazu, einen möglichst tiefen Wert zu erreichen. Schlusseindlich artet das ganze in einen Wettkampf aus, Werte im tiefen einstelligen Bereich zu erreichen.

Natürlich schadet das niemandem, also nur weiter so. Ich bin gespannt wie lange es dauert, bis Werte im Komma-Null Bereich veröffentlicht werden.

Und irgendwie ist es auch witzig, eine Tätigkeit die schon von den Höhlenbewohnern und Pfahlbauer ausgeführt wurde, zu Akademisieren.

Gruss Ulli
 
Natürlich schadet das niemandem, also nur weiter so. Ich bin gespannt wie lange es dauert, bis Werte im Komma-Null Bereich veröffentlicht werden.
Dafür muss der Hersteller erstmal ein besseres Topmodell auf den Markt bringen, das aktuelle kann "nur" ein Gramm auslösen. Mich würde allerdings gar nicht wundern, wenn in den Tiefen von Youtube irgendwo ein "Messergebnis" zu finden ist, wo die Waage auf Null Gramm abrundet.
Und irgendwie ist es auch witzig, eine Tätigkeit die schon von den Höhlenbewohnern und Pfahlbauer ausgeführt wurde, zu Akademisieren.
Hihi. Stimmt. Aber wir als Menschheit haben sogar Höhlengraben und Pfahlbauen akademisiert!
 
Ich sag mal so, interessantes teil.
Da geht aber auch wesentlich günstiger.
Im Prinzip braucht man nur den Halter und die Auflage sowie das Messmedium.
Dazu holt man sich eine Waage von Amazon, dort gibt es welche mit 1g Auflösung mit Max Wert.
Die sind vl nicht so genau, aber die 5g Toleranz überschreiten die auch nicht…

Dann ist man unter 100€ dabei :)
 
Dafür muss aber auch die Zeitauflösung/Messfrequenz der Waage gut genug sein. Daher haben die besser gewichtsauflösenden Bess-Waagen auch höhere Messfrequenz. Genauer gesagt muss

Zeitauflösung * Gewichtsauflösung < Änderungsrate der Kraft

sein. Je kleiner das Produkt der beiden Auflösungen im Vergleich dazu ist, desto besser.

Meine Küchenwaage schafft zum Beispiel gefühlte 0,5 Hz.

Vergleichbar mit Bess-Werten wäre sowas in jedem Fall nicht. Andererseits argumentiere ich ja gerade, dass Bess-Werte es untereinander auch oft nicht sind :D
 
Dann einfach langsamer drücken ;)
Ich weiß aber, dass es die Waagen durchaus günstiger gibt, die besser ansprechen…
Lass einfach ein Faultier drücken, dann passt die Zeitauflösung…
 
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