Servus,
Einhundert und sieben Tage, in Zahlen; 107 habe ich auf mein TiNy-Sheepfoot mit Standardscheide aus 12c27 gewartet, dann war es endlich in der Post. Die übliche Wartezeit liegt laut Website bei 3-4 Wochen, nur der grüne Punkt und das „sofort lieferbar“ irritiert ein wenig. Wie lange ich letztendlich gewartet hätte, wenn Hr Utsch, die eine Hälfte des 2-Mann-Teams nicht einen folgenschweren Arbeitsunfall gehabt hätte, bei dem er sich schwere Brandwunden an beiden Händen zugezogen hat, kann ich nicht sagen. Gleichzeitig erscheint mir die Nachfrage nach den Tools der beiden jungen Unternehmer enorm zu sein und das zu recht kann ich nur sagen. Das Konzept begeistert einfach. Ein gedruckter, unglaublich leichter 3D-Titangriff mit einer sensationellen Griff-Haptik, sowohl von der Oberfläche als auch von der Formgebung ist ein Novum. Wer sich wie ich für die Sheepfootvariante entscheidet, bekommt ein sehr fein schneidendes Messer, dessen primäre Aufgabe tatsächlich schneiden ist. Bestellt habe ich bewußt in 12c27.
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12c27 Exkurs:
12C27 ist ein martensitischer korrosionsbeständiger Messerstahl, der von der schwedischen Firma SANDVIK produziert wird. Der Stahlproduzent SANDVIK hat einen eigenen Firmenbereich, der sich auf die Entwicklung und Produktion von hoch qualitativen rostfreien Messerstählen spezialisiert hat. Die Stähle gelten allgemein als sehr homogen und Ausgewogen bezüglich der Zusammensetzung. 12C27 entspricht der Werkstoffnummer 1.4037, er wird von SANDVIK jedoch mit deutlich höherer Reinheit und Homogenität hergestellt. 12C27 ist ein Chromstahl mit einem ausgewogenen Chrom-Kohlenstoff Verhältnis, ohne den Zusatz weiterer Sonderkarbidbildner. Bei diesem Stahl liegt der Fokus auf einer ausgewogenen Kombination aus hoher Korrosionsbeständigkeit, Härte, Zähigkeit, Schneidkantenstabilität, Druckschnitttauglichkeit, hoher erreichbarer Schärfe und leichter Nachschärfbarkeit. Die Verschleißfestigkeit ist jedoch geringer als bei höher legierten rostfreien Stählen wie z.B. dem Niolox oder dem 14C28N.
Mit diesen Eigenschaften ist er der rostfreie Stahl, welcher meiner Erfahrung nach am ehesten an das Leistungspotential eines reinen Kohlenstoffstahls heranreicht. Hohe Härte, sehr hohe erreichbare Schärfe, leichte Nachschärfbarkeit und sehr gute Schneidkantenstabilität. Dadurch eignet sich der Stahl besonders gut für Klingen mit fein ausgeschliffenen Schneiden und dünnen Klingengeometrien. Außerdem ist der Stahl bestens für robuste Arbeits- bzw. Jagdmesser geeignet, bei denen Korrosionsbeständigkeit und Zähigkeit wichtiger sind, als eine hohe Verschleißfestigkeit.
Quelle: Xerxes Homepage
Mit diesem Stahl ist das TyNi aktuell nicht nicht mehr erhältlich, es erfolgte bei der Sheepfoot-Variante ein Wechsel zu 1.2695
1.2695 Exkurs:
Der 1.2695 ist ein Wolfram-Vanadium- und Molybdänlegierter Chromstahl mit sehr guter Verschleißfestigkeit. Der Stahl wurde als verschleißfestere und zähere Alternative zu den ledeburitischen Chromstählen, wie dem 1.2379 entwickelt. Im Vergleich zu 1.2379 bietet er eine bessere Schneidkantenstabilität, eine höhere Schnitthaltigkeit und eine bessere Eignung für fein ausgeschliffene Schneiden. Unter den rostbeständigen Stählen bildet er daher das Bindeglied zwischen dem 1.4235.03 /Niolox und den rostbeständigen PM-Stählen wie CPM-MagnaCut (verfügbar ab März/April 2022) und Vanax SuperClean. Der Stahl lässt sich auf eine hohe Schärfe bringen und er hält eine sehr gute Gebrauchsschärfe ausgesprochen lange. Auch feine Klingengeometrien sind möglich, allerdings kann ich den Stahl nicht für extrem dünne Lasergeometrien und Schneidenwinkel unter 30 Grad empfehlen. Bei Schneidenwinkeln zwischen 30 und 40 Grad nimmt der Stahl eine enorme Schärfe an und hält diese ausgesprochen lange, ohne dass die Schneide zu Mikroausbrüchen neigt.
1.2695 eignet sich hervorragend für kräftige Workhorse-Küchenmesser und Arbeitsmesser, die keinen Schlag und Biegebelastungen ausgesetzt werden. Meiner persönlichen Meinung nach ein ausgesprochen guter Klingenstahl, welcher die Verwendung des 1.2379 unnötig macht.
Achtung: Der 1.2695 hat eine gute Korrosionsbeständigkeit, gilt aber als rostträge und nicht als vollständig rostfrei.
Quelle: Xerxes Homepage
Die Klingen der 12c27 Variante sind blank, die der 1.2695 Variante stonewashed. Ob der Wechsel von 12c27 auf 1.2695 zu einem persönlichen Vorteil wird, ist vom Anwender abhängig. Wer mit dem Messer weder hackt noch hebelt dem bringt die Wolframlegierung ein Plus wenn er die oben genannten Eigenschaften bevorzugt.
Das war’s mal zum Stahlthema.
Jetzt aber zu meinen wirklichen Kaufgründen:
70 gr bei vergleichbarer Stabilität wie ein Flacherl ist eine Ansage für ein 20cm Fixed. Ich trage es sein Wochen hinter der zweiten Gürtelschlaufe von rechts und man spürt es einfach nicht. Die gedruckte 3D-Scheide ist knapp geschnitten, kein unnötiges Gramm zu viel und sie hält das Messer nah und relativ hoch am Körper. Die Zugkraft bei ziehen und versorgen der Klinge ist mit einer Schraube einstellbar, so wie es ausgeliefert wurde, war es für mich gut eingestellt. Die Klinge ist sauber eingeklebt, die Passungen sind genau. Der winzige beidseitige Spalt stört mich nicht und ich gehe davon aus, das im Griffinneren genug Klebstoff ist um sicher abzudichten.
Der Griff ist aus meiner Sicht einfach fantastisch. Matt, griffig, rund, leicht rau und hat eine verdeckte Lanyardaufnahme. Mit das Beste was ich bis jetzt so benutzt und in der Hand hatte. Vor allem die Wärmeleitfähigkeit von diesem Griff ist erstaunlich, der Griff ist auch bei Kälte sehr schnell handwarm. Die Klinge zeigt einen Querschliff, die Schneidfase ist sehr gleichmässig, aber relativ „offen“ also rau. Die gelieferte Schärfe ist in Ordnung, guter Durchschnitt. 20 Züge über einen Dick Mikrofeinzug und das wird teuflisch scharf. Das 12c27 so reagiert war klar.
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Durch die Rückenlinie, die einen leichten Knick nach innen macht, lässt sich beim Anspitzen von Holz ein ordentlicher Druck aufbauen und die fein ausgeschliffene Klinge frisst sich richtiggehend ins Holz. Der Guard schützt wirksam gegen ein abrutschen in die Schneide. Die abfallende Spitze soll trotz Guard taugliches schneiden auf einem Brett möglich machen, was aus meiner Sicht nur bedingt möglich ist. Dennoch ist das Messer wegen seiner Klingengeometrie vielfach besser für Lebensmittelbearbeitung in Wald, Wiese, Feld und Camping geeignet, als andere Messer die bei mir über die Jahre so durchgezogen sind. Ich würde das Sheepfoot-TiNy als leichten, urbanen Begleiter für jeden Tag einordnen, der auch bei einem Campingurlaub oder einer Wochenendwanderung eine gute Figur macht. Mit einem Beil und einer Säge an der Seite auch wochenlang im Busch, als Einzelmesser für alles ist es aber zu leicht und fragil vom Schliff und Materialstärke, nicht aber von der Konstruktion, wie viele Tests und Videos belegen.
Zur Scheide:
Die Angaben zur Gürtelbreite bitte beachten, wer das macht bekommt eine exakt passende Scheide die tatsächlich senkrecht am Gürtel wie angeschraubt bleibt und sich nicht hin und her bewegen lässt oder ständig schief hängt. Mir ist aufgefallen, das die Scheide porös ist und der Kunststoff Wasser zieht, wenn er durchgespült wird. Nach dem reinigen habe ich die Scheide mit Druckluft durchgeblasen und danach die Klinge versorgt, nach ein paar Minuten wieder gezogen und an den Flanken war ein dünner Kondensatfilm sichtbar, der an der Luft sogleich abgetrocknet ist. Es muss also noch eine Restfeuchtigkeit im Material gespeichert sein, das nach und nach abtrocknet. Auch kommt mir vor, die 3D-Scheide ist wie ein Massanzug und umschliesst die Klinge passgenauer als alles was ich bis jetzt kannte. Der justierbare Druckpunkt tut sein übriges dazu. Ziehen geht überraschend leicht, verglichen mit dem satten „Klack“ und der damit verbundenen Haltekraft. Der Guard verschwindet vollständig in der Scheide. Der Klingenrücken ist nicht angefast nur ein wenig gebrochen, richtig scharfkantig ist er nicht, aber auch kein Handschmeichler.
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Insgesamt bin ich von der Idee und von dem Konzept wirklich begeistert.
Pro:
Konkurrenzloser Leichtbau mit dauerhaften und edlen Materialien.
Passgenaue Scheide mit enormer Haltekraft, aber dennoch leichtes ziehen möglich.
Bester Tragekomfort am Gürtel, flache Konstruktion, ideal um es verdeckt und unauffällig zu tragen.
Schneidfähige Geometrie, sauberer Schliff, taugliche Spitze
Traumhafte Griff-Haptik in Form und Oberfläche
Verdeckte Fangriemenaufnahme
Kein Logo, kein Branding, kein Geschreibsel an der Klinge, wie fein ist das denn!
Contra:
Der Guard kann je nach Schleifmethodik stören.
Ansonsten finde ich an dem Messer nichts negatives.
Zusammengefasst:
An dem Messer ist aus meiner Sicht alles dran, was Sinn macht, wie die Schleifkerbe, der Handschutz und die versteckte Fangriemenaufnahme. Falls wer auf Banksteinen schärft, statt Sharpmaker, Lansky oder ähnlichen Methoden, der sollte den überstehenden Guard vor dem Schärfen abkleben, sonst kann es sein, das man gegen den Stein schrammt, was unnötige Kratzer am Titangriff zur Folge hat. Ich hab das ausprobiert und man muss schon sehr konzentriert das Messer handhaben, damit man da nicht anstreift. Vor allem wenn man Kochmesserschleifroutinen hat, die diagonal zum Stein geführt werden.
Auf der Homepage kann man sich ein informatives Video über den Werdegang und die Hintergründe von U&G-Tools anschauen. Dort wird auch erklärt, das die Klingenfertigung, das Härten und der Schliff nebst schärfen außer Haus stattfindet, da Phillipp Utsch alleine nicht ansatzweise in der Lage wäre, diese Stückzahlen selbst von A-Z zu fertigen. Der Titandruck und das zusammenfügen/verkleben von der Klinge in den Griff wird selbst gemacht. Mein Exemplar hatte leider quer über beide Flanken feinste Oberflächenkratzer, die wohl durch Kornverschleppung beim finalen Schärfen entstanden sind und durch die Qualitätskontrolle geschlüpft sind. Der eigentliche Querschliff vom Band ist ordentlich gemacht und mir ist ein grobes Bandfinish viel lieber als ein aufpoliertes.
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Nach 107 Tagen Wartezeit haben die verkratzten Flanken dann doch meine Freude und Begeisterung für dieses geniale Konzept etwas eingetrübt, so dass ich eine Reklamationsmail an Hrn. Gierse geschrieben habe. Höflich aber bestimmt habe ich meine Unzufriedenheit mit dem Klingenfinish kundgetan und überraschenderweise kurz danach eine sehr nette und lösungsorientierte Antwort bekommen, in der die aktuellen Umstände plausibel begründet wurden und dem Getreu dem Firmenmotto alles daran gesetzt wird, höchste Kundenzufriedenheit zu garantieren, so auch bei mir. Ein Austausch ist selbstverständlich, aber da es keine TiNy-Sheepfoot mehr in 12c27 geben wird, muss ich mit dem aktuellen Stahl, 1.2695 klarkommen, was überhaupt kein Problem ist und die neue Klinge wird ein mattes Stonewashed-Finish haben, anstatt den blanken Flanken. Was mir Aufgrund der besseren Unempfindlichkeit auch nur recht ist. Nach dieser Mail, am 25.04. 23 ist bis heute nix mehr passiert, vielleicht kommt ja noch mal eine Reaktion. Es ist mir völlig klar, dass der Unfall von Phillipp Utsch dazu verunglückte Chargen incl. Lieferengpässen von Zulieferfirmen zu unvorhergesehenen Verzögerungen führen und wenn dann noch der „Titan-Laser“ für Wochen ausfällt, ja dann kann niemand die auf der Homepage angekündigten Lieferzeiten einhalten. Selbst beim besten Willen nicht. Wenn man dazu auch noch seinen Lebensunterhalt in einem Brotjob verdienen muss und dieses innovative Messerprojekt erst nach Dienstschluss und an Wochenenden so richtig anläuft, dann wundern mich lange Lieferzeiten und stockender Mailverkehr nicht. Für eine zusätzliche Bürokraft reicht der Umsatz noch nicht aus. Ich will nicht jammern sondern nur ganz klar gesagt haben, wie die Bestellung zumindest bei mir abgelaufen ist und eben ablaufen kann.
In der Zwischenzeit hat mir die Sache mit den feinen Kratzern keine Ruhe gelassen. Klar wird das Messer im Laufe der Zeit Kratzer und Blessuren bekommen, aber die sollen durch mich und meine Handhabung entstehen und nicht bereits mitgeliefert werden. Ein wenig Ahnung vom Schleifen und schärfen hab ich doch und weiß auch welche Qualitätsstufen von Flankenoberflächen möglich sind, bzw. ob das ein Makel ist, weil Mangel ist es ja keiner, der von mir selber und ohne großen Aufwand beseitigt werden kann. Ich habe dann mit dem schwächsten möglichen Abtrag begonnen, noch vor einem feinen Schleiflies und habe einen Edelstahlreiniger mit Mikroschleifkörpern auf ein Bauwollflies aufgebracht und in Schleifrichtung in ein paar Durchgängen praktisch alle feinen Kratzer entfernt. Jetzt schauen die Flanken so aus, wie es sein sollte.
Jetzt bin ich zufrieden und kann mich in vollem Umfang an diesem tollen Messer erfreuen. Da mich das Konzept nach wie vor begeistert, wird das nicht mein letztes Messer von U&G-Tools gewesen sein. Allerdings warte ich lieber so lange zu, bis sich deren Arbeitsabläufe, Bestellroutinen und der Kundendienst alltagstauglich eingespielt haben. Jetzt ist noch großer Druck aus allen Richtungen vorhanden, der nach und nach durch Routinen verschwinden wird. Möge sich das coole Konzept fix in der Messerszene etablieren und laufend neue Modelle dazukommen.
Ich werde sie dann kaufen.
Gruß, güNef