Stand der Dinge
Die Aufgabenstellung: Ein möglichst schneidfreudiges Messer mit guter Schnitthaltigkeit und guter Zähigkeit (rostfähig oder rostträge) für einen bestimmten Einsatzzweck - EDC, Bushcraft, Haumesser, Jagd, Küche (Laser, Chopper), Rasur, Tauchen …
Die Parameter: Stahl, Wärmebehandlung, Klingendicke, Dicke hinter der Wate, Gesamtschneidenwinkel, Klingenschliff
Je nach Einsatzzweck kann der Schwerpunkt bei der Stahlauswahl auf Schnitthaltigkeit, Zähigkeit oder Rostträgheit gelegt werden. In der Regel können zwei Kriterien dabei etwa gleichwertig gut kombiniert werden (z.B. sehr hohe Zähigkeit mit sehr hoher Rostträgheit). Alle drei nicht. Wer auf Ausgewogenheit Wert legt, muß bei allen Kriterien Abstriche in Kauf nehmen. Eine gute Orientierung für die Stahlauswahl bieten die Tabellen von Larrin Thomas im Eingans-Post.
Die Wärmebehandlung kann auf einzelne Kriterien hin optimiert werden.
Der Gesamtschneidenwinkel und die Klingendicke (gesamt und hinter der Wate) sollten so klein sein wie möglich (weniger Kraftaufwand, größere Eindringtiefe, bessere Schneidfähigkeit, mehr Schneidfreude). Ein Jagdmesser braucht mehr "Futter" als ein Küchen-Laser.
Sie stehen in direktem Zusammenhang. Das heißt, es ist nicht hinreichend, einen bestimmten Schneidenwinkel - sagen wir 40 Grad - als genügend stabil anzusehen, wie das folgende Bild (links Rosellis Kleiner Koch 2,7 mm & 0,5 mm hinter der Wate, rechts Xerxes Baby Bull 1,6 mm & 0,1 mm hinter der Wate) eindrucksvoll veranschaulicht.
Mit einem Messer des Kalibers Xerxes Baby Bull würde ich selbst bei 50 Grad Gesamtschneidenwinkel nicht auf Stahlnägel und Bisons losgehen. Die Klinge würde sofort restlos kollabieren. Für die Tomatenjagd dagegen ist der Hauch von einem Laser ein wahrer Freudenspender.
Es ist erforderlich, bei der Wahl von Stahl und seinen Eigenschaften sowie Geometrie und Schliff für die auf die Anwendung bezogene richtige Abstimmung / Ausgewogenheit zu sorgen.
Was den Schliff anbetrifft, sollte die Klinge bis auf die angemessene / erforderliche Korngröße (Tomaten-Laser oder Jagdmesser) geschliffen / abgezogen werden. Je feiner die Körnung, desto höher die Schärfe (Breite der Schneidenspitze). Je höher die Schärfe, desto sensibler gegen Kontakt und schneller deren Abnahme.
Die folgende Grafik (frei nach Roman Landes) zeigt die maximal mögliche erreichbare Schärfe. Die theoretische Schärfe kann nicht erreicht werden. Man kann sich ihr nur annähern. Wie weit man den Schärfvorgang treibt, hängt davon ab, was man mit dem Messer vorhat. Will man Tomaten lasern, wird man mit dem Schleif-/Poliermedium immer feiner werden, während bei einem Jagdmesser oder EDC für den gewöhnlichen Gebrauch 4.000 Grit - oder auch weniger - durchaus befriedigende Ergebnisse liefern. Eine Hyperschärfe wäre beim Schnitzen alsbald wieder verschwunden.
Wie Big Brown Bear in post #117 gezeigt hat, reichen 2,7 mm Klinge aus CPM 4V mit einem Gesamtschneidenwinkel ab 34 Grad und 0,36 mm hinter der Wate aus, um Stahlnägel zu durchschlagen, ohne die Klinge zu beschädigen.
Wer also in jeder Hinsicht auf Nummer sicher gehen will, hat hier einen Maßstab für ein hochbelastbares, schneidfähiges und relativ schneidfreudiges Messer (Knochenkontakt, hauen, hacken, choppen, schneiden …).
Wenn wir den Anspruch etwas heruntersetzen, können wir mit der Klingendicke, dem Gesamtschneidenwinkel und / oder dem Wert hinter der Wate weiter heruntergehen. Wenn wir also beispielsweise Hacken / Choppen und Knochen aus dem Pflichtenheft streichen und uns auf den Gebrauch des Messers für Holz und allgemeine EDC-Arbeiten beschränken, können wir weiter verschlanken.
Eine diesbezüglich solide Geometrie liefern z.B. die Messer von Spyderco. Ein Para Military verläßt das Werk in Golden mit einem Gesamtschneidenwinkel von rund 30 Grad - bei 0,5 bis 0,6 mm hinter der Wate und einer Klingendicke von 3 mm in der Klingenmitte. Es lohnt, hinter der Wate etwas aufzuräumen, was die Schneidfähigkeit spürbar verbessert. Wer unbedingt „Verstärkung“ nötig hat, hat mit dem Sharpmaker oder anderen Medien die Möglichkeit, eine 40-Grad-Mikrofase zu setzen.
Man kann weiter verschlanken. Im Fall meiner Customs beispielsweise - bei einer Klingenstärke von 2,7 mm und geeignetem Stahl - bis auf 0,2 / 0,3 mm hinter der Wate und einen Gesamtschneidenwinkel von 20 / 22 Grad. Als Beispiel dazu mein Sündenbock von Daniel Boll mit einer schlank balligen Klinge aus niedrig legiertem Wolframstahl 1.2516 (60-61 HRC), der alle Tätigkeiten auf den unten folgenden Bildern zu meiner vollsten Zufriedenheit und ohne Blessuren erledigt.
Auch auf eine Klingenstärke von 2 mm kann bei geeignet zähem Stahl ohne weiteres zurückgegangen werden, wie Custom-Klapper von Daniel Boll (Fischhautklapper) oder Attila Kovács zeigen.
Mein Bushcrafter von Blind Horse Knives aus O1 Toolsteel hat einen Scandi auf Null. Da Klingenhöhe = 3,9 mm und Anschliffhöhe von 9,6 mm feststehen, läßt sich der Gesamtschneidenwinkel exakt mit dem Kosinussatz berechnen: 23,44 Grad. Damit habe ich im Vergleich mit einem weiteren Scandi von MLL Knives einen armdicken Ast aus durchgetrocknetem Eukalyptus im Wechsel in etwa 20 Minuten durchgehackt. Beide Messer haben keine Blessuren davongetragen und anschließend noch einwandfrei Kurven in Papier geschnitten.
Der Sündenbock
Was die generelle Geometrie angeht - also Flachschliff, Scandi, Hohlschliff, konvexer Schliff - ist eine ballige Klinge sehr empfehlenswert, da sie stabil ist und leichter sowie tiefer in sperriges Schnittgut eindringt, da sie keine „Ecken und Kanten“ hat, die sie ausbremsen und das Schnittgut nur einen kleinen Teil der Flanke touchiert, was zu einem geringeren Reibungswiderstand führt. Das Abziehen eines balligen Schliffs auf Mousepad mit Micro Cloth geht mit etwas Routine flott und mit sehr befriedigendem Ergebnis von der Hand.
R’n‘R