Ohne jetzt nochmal jeden Kommentar genau zu lesen, und ohne irgendwem irgendeine Aussage unterstellen zu wollen, hier mal das, was sich mein armes, kleines Versuchsingenieur-Gehirn dazu denkt:
Wenn man so ein "galgenförmiges" System hat, wie Simons oder einen Nowi, dann hängt der Winkel, den die Schneidfase am Ende tatsächlich hat, von vielen Dingen ab, unter anderem:
- Planparallelität des Schleifsteins (Keilförmigkeit über die Auflagepunkte)
- Planheit der Oberseite des Schleifstein
- Neigung der Systemplatte (Unterlage des Schleifsteins) zum Tisch
- … vor allem, wenn man etwas zwischen Stein und besagte Platte legt (Geschirrtuch? Steinhalter?!)
- Winkel zwischen Säule und Platte
- Winkel zwischen Ausleger und Säule
- Winkel zwischen vertikaler Haltestange und Ausleger
- tatsächliche Form des Messerhalters (Fertigungstoleranzen), insbesondere Planheit und Neigung der Fläche, die Kontakt zur Klinge hat (Klebeband? Mehrere Streifen versetzt überlappend? Uiuiui!)
- Winkeltreue in den Gelenken (Nowi) bzw. in den Schlittenlagern (Herde)
- Wärmeausdehnung
- Biegungen diverser Komponenten unter Last
- Losbrechmomente in den Gelenken, die den Winkel an der Schneidfase konstant halten sollen
Das sind schon ziemlich viele Einflüsse, und wie gesagt noch gar nicht alle.
Bevor jetzt jemand einwendet, daß man ja den Stein vorm Schleifen nullt: Ja, schon, aber was meint der einzelne tatsächlich, wenn er nullen sagt? Eine »Bevel/Level Box« auf den Stein stellen, die Anzeige auf Null stellen und damit dann den Winkel der Klinge am Messerhalter einstellen? Das Nullen auf dem Stein paßt dann nur für die eine Richtung, in der die Bevel Box bei der Messung ausgerichtet war, weil die Oberseite des Steins in einer anderen Richtung ja doch wieder abschüssig sein kann. Wie genau kann man so eine Bevel Box parallel zu der Richtung ausrichten, die beim Schleifen den Winkel der Schneidfase bestimmt? Welche Richtung ist das überhaupt? Wie genau hält man diese Richtung ein, während man das Messer beim Schleifen auf dem Schleifstein bewegt? Gar nicht genau, weil man das Messer teilweise sogar absichtlich um seine Hochachse dreht. Diese Hochachse muß exakt senkrecht auf der Steinoberseite stehen. Natürlich kann man in guter Näherung annehmen, daß das System in sich rechtwinklig ist und es reicht wahrscheinlich, den Stein ins Wasser zu bringen. Man kann also den Stein oder das Schleifsystem so lange unterfüttern, bis die Steinoberseite exakt im Wasser ist. Bedenke: Die Oberseite des Steins ist eine Ebene (idealisiert), keine Gerade. Man darf nicht die Bevel Box auf den Stein setzen, nullen, um 90° um ihre Hochachse drehen und zufrieden sein, wenn sie dann wieder 0° anzeigt. Man muß sie auf eine wirklich waagrechte Fläche stellen, nullen und dann auf dem Stein in mindestens zwei zueinander senkrechten Richtungen kontrollieren, daß sie noch 0° anzeigt.
Als nächstes stellt man die Neigung der Klinge ein. Und da wird es ganz abenteuerlich:
Die teuerste Bevel Box, die ich mal eben mit Google gefunden habe, kostet etwas über 100€. Die ist angebenen mit einer »maximalen Fehlertoleranz« (?) von ±0,1°, und die Anzeige löst auch nur 0,1° auf. Die billigeren Teile für um die 20€ haben teilweise Anzeigen, die 0,01° auflösen (bißchen gaga), sind aber auch nur mit Toleranzen von 0,2° angegeben, womit vermutlich die Meßunsicherheit gemeint ist. Allein diese Meßunsicherheit würde ich ja der Meßmethode an sich schon nicht zutrauen, egal wie genau und reproduzierbar die Box messen kann:
Da setzt man ein Kunststoffkästchen mit (meistens mehreren!) Magneten an der Unterseite auf eine Klinge, die selbst schon oft nicht gerade die plansten Flanken hat, und meistens keine 50mm breit ist, weshalb die Bevel Box so gut wie immer übersteht. Alternativ kann man natürlich ein anderes, vorzugsweise möglichst planparalleles Metallteil anstelle der Klinge einsetzen und die Bevel Box auf dieses Teil setzen. Die Bevel Box muß aber auch noch exakt parallel zur Verstellrichtung/-ebene des Messerhalters ausgerichtet sein, sonst mißt man einen anderen Winkel. Und das Messer muß auch genau richtig im Halter sitzen: Die Verstellebene des Halters muß senkrecht zur Schneide verlaufen, wenn ich keinen Denkfehler mache. Und natürlich senkrecht zur Kontaktebene zwischen Halter und Klinge. Alles hat Toleranzen. Das Messer sitzt in einem minimal anderen Winkel am/im Messerhalter als der planparallele Ersatz für die Einstellung des Winkels, weil die Gewichtsverlagerung anders ist, bei einer Klemme zusätzlich auch weil die Form anders ist. Den Primärfasenwinkel zu messen und dann beim justieren mit einzuberechnen … ja, aber kleiner wird die Unsicherheit dadurch nicht.
Niemals würde ich mir zutrauen den Winkel der Schneide auf 0,1° genau hinzubekommen. Auch nicht mit einem Nowi Pro. Mit den Lasergoniometern, die auf dem Markt kursieren, kann man nicht annähernd genau genug messen, um das zu überprüfen. Dafür müßte man den Winkel schon auf deutlich weniger als 0,1° genau messen können. So ein Laserfleck überdeckt aber (zumindest meistens) deutlich mehr als 0,1° auf der Skala. Es gibt doch tatsächlich ein Goniometer, das hat zwischen den Fünferteilungen (10, 15, 20 usw.) jeweils drei (!) Teilstriche.
Ich habe noch nie einen Nowi in natura gesehen, aber ich habe wie gesagt Simons System. Ich glaube, daß diese Art von System es einem ermöglicht sehr einfach, schnell und sicher, ohne viel Übung, ein sehr gutes Ergebnis zu erzielen. Der Nowi ist teuer, aber wahrscheinlich für täglichen Einsatz (z.B. beim Messerhändler) die richtige Wahl. Simons System ist genau das richtige für jemanden, der zuhause gelegentlich Messer schleift und nicht gleich einige Hundert Euro für ein System ausgeben, aber trotzdem beim Schleifen den Winkel möglichst sicher halten will, ohne dabei einen vorab festgelegten Winkel exakt treffen zu müssen. Es gibt ja noch die Filzstiftmethode. Die dürfte genauer und zuverlässiger sein als einen Winkel zu messen (oder gar den Angaben der Messerhersteller blind zu vertrauen) und dann mit Bevel Box diesen Winkel am System einzustellen und darauf zu vertrauen, daß man exakt die Schneidfase treffen wird. Egal, ob man einen Winkel mißt und einstellt oder die Filzstiftmethode anwendet, man wird ja wohl so oder so nach kurzem Anschleifen einen Blick auf die Schneide werfen, um zu kontrollieren, was man da gerade fabriziert. Das braucht man wahrscheinlich nicht, wenn man alle Messer immer mit demselben Winkel bzw. mit einem Messerhalter mit festem Winkel schleift. Die Wahl zwischen 15°, 20° und etwas darüber paßt aber eben für viele Messer nicht, wenn man sie nicht umschleifen will. Allein wegen des Messerhalters die Genauigkeit des Winkels anzuzweifeln scheint mir zu kurz gegriffen.
Den Text könnte man sicher noch kürzer und prägnanter formulieren, aber das kostet mir dann doch zuviel Zeit. So lange wollte ich hier eigentlich gar nicht sitzen.
Übrigens, angesichts all der oben genannten Punkte halte ich es – sorry – für etwas albern einen dreistelligen Betrag für so ein Goniometer auszugeben, zumindest für den Hausgebrauch.